Hilfe für die Betroffenen : Eschweiler Ehepaar erlebt das Erdbeben in Marokko hautnah

Ein guter Freund will Raphael und Marina Kamp aus Eschweiler seine marokkanische Heimat zeigen. Als sie in Marrakesch sind, sorgt das schwere Erdbeben für Chaos. Sie kommen heil zurück, nun wollen sie der schwer betroffenen Region im Atlas-Gebirge helfen.

In der marokkanischen Millionenstadt Marrakesch pulsiert das Leben auf den Straßen und engen Gassen bis in den späten Abend. Dieser Umstand ist es gewesen, der vielen Menschen das Leben rettete, die sich am 8. September um 23.11 Uhr nicht in Häusern befanden. Zu diesem Zeitpunkt ereignete sich das schwerste Erdbeben der Region seit mehr als 100 Jahren. Mindestens 2500 Menschen sind laut offiziellen Angaben tot, viele verloren ihre Heimat und ihre Familien.

Im Chaos, das vor Ort ausbricht, sind die Eschweiler Raphael und Marina Kamp mittendrin. „Wir saßen im Innenhof unseres Hotels, als das Erdbeben losging. 20 bis 40 Sekunden wackelte alles, Wände knackten und rissen“, berichtet Raphael Kamp. Instinktiv will er in die Mitte des Platzes gehen. Doch seine Frau machte bereits in der Türkei „Erdbebenerfahrung“, wie sie selbst schildert, und zieht ihn mit unter einen Torbogen. Kurz darauf rennt er noch einmal in das beschädigte Hotel, greift Pässe, Geld und Kleidung. „Ob das besonders klug war, weiß ich nicht“, sagt Kamp zurückblickend.

Die offenen Plätze und Vorhöfe der Moscheen sind bereits heillos überfüllt, als sie dort ankommen. Nachdem auch noch ein Nachbeben, rund 20 Minuten nach dem ersten, die Stadt trifft, herrscht die Gefahr einer Massenpanik. Wer die Möglichkeit hat, flüchtet zu Fuß oder motorisiert aus der Stadt. Doch die Straßen sind völlig verstopft, Handy- und Stromnetz fallen immer wieder aus.

 Viele Menschen sind weiterhin in Zeltcamps untergebracht.
Viele Menschen sind weiterhin in Zeltcamps untergebracht. Foto: Raphael Kamp

Trotzdem schafft es Abdelmalek Farhou, beide abzuholen. Der in Deutschland lebende Sprach- und Integrationsmittler ist ein Freund der Familie Kamp und wollte ihnen seine Heimat Marrakesch zeigen. Nun muss er mitansehen, wie in der historischen Stadt mit ihren beeindruckenden Moscheen Panik herrscht. Hochbetagte Senioren und Kinder irren über die Straßen. Gemeinsam fahren die drei zu Farhous Familie. Aus Angst vor einem weiteren Beben verbringen alle vier Generationen der Familie die Nacht im Freien.

Das Glück, sich während des Erdbebens im Freien aufzuhalten, hatten viele Menschen im dünn besiedelten Atlas-Gebirge südlich von Marrakesch nicht. „Nach dem Abendgebet um 21 Uhr gehen die Menschen auf dem Land meistens schlafen“, erklärt Farhou.

Auch fast zwei Wochen später ist bei vielen abgelegenen Dörfern das Ausmaß der Schäden noch unklar. Zahlreiche Bergstraßen sind zerstört, Transporthelikopter der marokkanischen Armee sind die einzige Chance, diese Region zu erreichen. „Doch der Staat kommt hier vielerorts an seine Grenzen“, sagt Farhou. Trümmer werden von den Menschen vor Ort teilweise per Hand beseitigt, ehe Bagger eintreffen. „Im Gebirge habe ich rund 20 Frauen gesehen, die Hilfsgüter mehrere Kilometer auf ihrem Rücken von der Straße bis ins Dorf brachten – und dabei noch gemeinsam gesungen haben“, erinnert er sich. Der Zusammenhalt und der Einsatz der Ehrenamtler sei „unglaublich und unverzichtbar“.

Auch seine Schwester ist mit ihrem Mann ehrenamtlich im Einsatz. Gemeinsam arbeiten sie seit Jahren für die „Association Assabil for Culture and Education“ in der Kleinstadt Amizmiz, rund 70 Kilometer südwestlich von Marrakesch und am Fuße der majestätischen Bergkette des Atlas-Gebirges gelegen. Die Mitglieder des Vereins, der mit dem Bildungsministerium und anderen Hilfsorganisationen kooperiert, bringen Analphabeten das Lesen bei, betreuen Waisenkinder und organisieren Hilfsmittel für Bedürftige. Nicht nur in der Kleinstadt, sondern auch in der nur von dort erreichbaren Bergregion.

Für Abdelmalek Farhou ist sofort klar, dass er nach Amizmiz zu seiner Schwester fahren muss. Die Kamps entscheiden sich, ihn zu begleiten, nachdem sie weitere Sachen aus ihrem Hotel geholt haben. Das Ehepaar hat Glück im Unglück: Das Gebäude steht noch. Viele andere Touristen stehen nach dem Erdbeben ohne Hab und Gut da, nachdem ihre Unterkünfte eingestürzt sind.

In Amizmiz treffen sie auf kleine Zeltstädte, in denen die Betroffenen der Region untergebracht sind. „Es bleibt immer die Angst, dass noch etwas passiert“, betont Farhou. Für Raphael und Marina Kamp ist sofort klar, dass sie die Menschen in Not unterstützen wollen. Die restliche Reisekasse schenken sie Farhous Schwester. „Hier wissen wir, dass die gesamte Hilfe sofort und zu einhundert Prozent bei den Betroffenen ankommt“, erklärt Raphael Kamp. Denn die Zeit drängt angesichts der großen Not und des herannahenden Winters, der für viele Obdachlose zur zweiten großen Katastrophe werden könnte. Lebensmittel und Hygieneartikel zählen zu den wichtigsten Gütern vor Ort, die nun gebraucht werden, aber auch darüber hinaus will der Verein beim Wiederaufbau helfen. Der Schulunterricht soll etwa so schnell wie möglich – zumindest in Zelten – wieder stattfinden.

 Zahlreiche Hilfsgüter werden aus Amizmiz auch in die schwer erreichbaren Bergdörfer gebracht. Dort, wo Straßen keinen Transport zulassen, werden die Waren teilweise auch zu Fuß zu Bedürftigen gebracht.
Zahlreiche Hilfsgüter werden aus Amizmiz auch in die schwer erreichbaren Bergdörfer gebracht. Dort, wo Straßen keinen Transport zulassen, werden die Waren teilweise auch zu Fuß zu Bedürftigen gebracht. Foto: Raphael Kamp

So bald wie möglich will Abdelmalek Farhou wieder in die Region reisen, um sich selbst ein Bild davon machen zu können, was mit den Spendengeldern passiert und wo noch Hilfe gebraucht wird. Über den Mainzer Verein Humania (siehe Info-Box) werden die Spenden aus Deutschland sofort an den Verein von Farhous Schwester weitergeleitet. Und auch Nora Hamidi hat ein Crowdfunding gestartet. Sie ist Teil des Eschweiler Integrationsrats und ebenfalls gebürtige Marokkanerin. „Wir fragen uns natürlich, was mit den Kindern und möglichen Waisen vor Ort passiert“, sagt Hamidi. Laut Unicef sind etwa 100.000 Kinder von der Katastrophe betroffen. „Ihnen, aber auch allen anderen, wollte ich so schnell wie möglich helfen. Denn die Rolle der Ehrenamtler bei dieser jahrelangen Aufgabe ist extrem groß.“

Von dem, was die Menschen derzeit in der betroffenen Region leisten, ist sie extrem beeindruckt. „Der Zusammenhalt ist unglaublich. Touristen fliegen nicht zurück, sondern spenden Geld und auch Blut. Die Menschen vor Ort organisieren Zelte, psychologische Betreuung oder nehmen sich einfach nur Zeit, die Kinder eine Weile lang abzulenken“, erzählt Hamidi. Und Farhou ergänzt: „Ich habe gesehen, wie ein marokkanisches Kind seinen Teddybär auf einen Haufen für Spenden gelegt hat. Ein alter Mann kam mit einem klapprigen Fahrrad und brachte einen Beutel mit Lebensmitteln. Das zeigt, dass jeder in dieser Situation Hilfe leisten kann.“

Raphael und Marina Kamp sind mittlerweile zurück in Eschweiler. Gemeinsam mit Farhou und Hamidi haben sie beschlossen, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, um für die dringend benötigte Hilfe zu werben. Ihren Urlaub in Marokko wollen sie eines Tages nachholen. Denn nicht nur Natur und Kultur haben sie beeindruckt, sondern auch die so herzlichen und hilfsbereiten Menschen, die nun ihrerseits auf Hilfe angewiesen sind.

Die internationale Presse, wie hier der ORF, berichtete aus Marrakesch.
Die internationale Presse, wie hier der ORF, berichtete aus Marrakesch. Foto: Raphael Kamp